John Carter of Mars: Erster Eindruck

Von | 23. Dezember 2018

John Carter of Mars von Modiphius: Ein erster Überblick.

Mein System kann ALLES!

Mein System kann ALLES!

Ich mag zugängliche, herausforderungsorientierte Spiele. Und ich mag vielseitig einsetzbare Spiele, die Probleme elegant lösen und sie nicht einfach mit Sonderregeln, Fertigkeitslisten erschlagen oder gar die Probleme auf die Spieler abwälzen. Ja, ich sehe Dich an, Savage Worlds. Die Schnittmenge aus beidem ist aber leider nahe Null.

Das 2D20 System wird für eine Vielzahl von unterschiedlichen Settings genutzt. Das weckt natürlich mein Interesse. Ich habe mit darum Infinity angesehen und aufgrund der hohen Komplexität und des permanenten Ressourcengeschubses wieder verworfen.

Zeitsprung: Vor ein paar Tagen empfahl Frank aus der Google-Plus-Community die neueste Iteration des 2D20-Systems: John Carter of Mars. Das ist jetzt nicht mein Lieblingssetting, aber nach Franks Beschreibung nutze John Carter ein extremst vereinfachtes 2D20. Die Webseite preist das Spiel als narrative Variante von 2D20 an (für mich ein Abtörner). Aber die Neugier ist geweckt und am Ende ist das Spiel auch nicht zu teuer.

Um es mit Onkel Hotte zu sagen: „Gesägt, tun getan!“. Ich habe das Spiel gekauft und es mir angesehen. Ich habe es noch nicht probegespielt. Ich habe es auch nicht final mathematisch unter die Lupe genommen. Ich habe einen ersten Eindruck gewonnen und mir die Extreme, die entstehen können, angesehen. Ich beurteile dabei nicht das Setting oder den Fluff, sondern nur den Crunch. Hier das Ergebnis.

Weniger komplex? Check.

Frank hat nicht übertrieben. John Carter of Mars (im Folgenden nur noch JCoM) ist heftigst vereinfacht. Es gibt keine Fertigkeiten mehr. Der Fokus, der im klassischen 2D20 ein eigener Wert ist und Fertigkeiten zugeordnet wird, geht in den Attributen auf. Von den Attributen gibt es auch nur noch sechs und sie funktionieren ganz anders.

Attribute sind nun entfernt so etwas wie Approaches bei Fate: Sie beschreiben nicht unbedingt wie der Charakter beschaffen ist, sondern wie der Charakter etwas tut – was er besonders gut kann (in der Absicht). Cunning wird zum Beispiel immer dann herangezogen, wenn der Charakter jemandem schaden möchte. Might wiederum beschreibt nicht unbedingt die Stärke, denn das Attribut wird nur herangezogen, wenn Kraft auf Unbelebtes ausgeübt wird.

Wir merken an dieser Stelle schon, es wird abstrakter. Und ich glaube das ist der Grund, warum das Spiel als „narrative Variante“ bezeichnet wurde. Das „Meta“ ist stärker, keine Frage.

Das merken wir auch bei den Races (ja, sie heißen noch so) und bei den Archetypes. Beide definieren in Prosa locker, was ein Charakter so kann oder nicht kann bzw. weiß. Lediglich die Attributsboni sind hart und regelseitig fest definiert. Die Auflösung des Rests wird den Spielern überlassen. Das ist inzwischen aber auch in herausforderungsorientierten Spielen angekommen und hat hier einen festen Platz erreicht. 13th Age macht das z.B. über die Professions auch nicht wirklich anders.

Ein Charakter ist so in wenigen Minuten erstellt. Sich die richtigen Talente auszusuchen dürfte die meiste Zeit verbraten.

Der Regelkern: Interpretationssache

Für eine Würfelprobe werden immer zwei Attribute kombiniert. Ein Nahkampfangriff läuft meist über Cunning + Daring. Jeder D20 unter der Summe ergibt einen Erfolg. Jeder D20 unter dem niedrigeren der beiden Werte ergibt 2 Erfolge. Das ist eingängig und fix und erspart den Fokus. Attributswerte beginnen bei 4 und können durchaus schon bei der Charaktererstellung 9 oder 10 erreichen.

Mathematisch sind die Auswirkungen deutlich: In ihrem Fachgebiet sind Charaktere so kompetent, dass sie kaum versagen können und permanent Momentum generieren müssen. Ich habe einen Gladiator erstellt, der bei Nahkampf Angriff wie Verteidigung 17 als Zielwert hat und „Fokus“ 8. Mit 2D20 4 Erfolge zu generieren hat hier ohne Einsatz von Glück oder Momentum eine 16-Prozent-Chance. Mit einem einzigen Zusatzwürfel ist die Chance auf mindestens 4 Würfel immerhin 60 Prozent. Das ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass Schwierigkeit 5 meist das Ende der Fahnenstange signalisiert und übermenschlicher Anstrengungen bedarf.

Spielerisch ist hier doch ein Paradigmenwechsel zu spüren. Es tritt der Fate-Effekt ein, dass der Erfolg vor allem denen beschieden ist, die in der Spielergruppe ein hohes Standing haben und/oder am besten argumentieren können, warum die für den Spieler optimale Attributskombination sich praktisch auf alles anwenden lässt, was der Spielleiter gerade an Proben verlangt. Gerade die abstrahierten Attribute verleiten dazu. „Ich spiel aber leidenschaftlich gerne Schach! Da muss ich doch auch mit Passion würfeln dürfen“. Das ist bei abstrahierenden Systemen meist so und es braucht eine gesunde Gruppenhygiene, wenn das mit herausforderungsorientiertem Spiel klappen soll.

Das Spiel ermutigt dazu, ein Talent dafür zu verwenden, wenn Spieler immer das Gleiche mit immer den gleichen – grenzwertigen – Attributen machen möchten. Es sagt aber nicht, wo man diese Grenze ziehen soll, da doch die Auswahl der Attribute den Spieler überlassen wird. Anders formuliert: Wenn mangelnder Konsens über die freie Verwendung der Attribute zu erwarten ist, dann ist auch mangelnder Konsens über die gebundene Verwendung der Attribute zu erwarten.

Einfach? Auch eine Interpretationsfrage.

Dem Rotstift sind leider auch essenzielle Dinge zum Opfer gefallen. Es gibt z.B. keine Regeln für Rüstung, da auf dem Mars alle in Harnischen herumlaufen, die mich peinlich an Zardoz erinnern. Die Rolle der Ausrüstung ist mir auch noch nicht ganz klar. Das muss ich mir nochmal näher ansehen.

Grundsätzlich ist es bei drei verschiedenen Sorten Trefferpunkten geblieben. Stress and Afflictions erfordern ordentliche Buchführung und passen kein Stück zum im Übrigen so reduzierten System. Das hat Modiphius wohl auch selbst bemerkt und eine einfachere Variante als Option eingefügt. Deren Praktikabilität scheint mir zumindest diskussionswürdig. Die Option wäre für mich aber Pflicht. Das passt sonst nicht.

Und sonst so? Frau und Kind?

Hier nun ein paar unsortierte Anmerkungen aus meinem Gedächtnis.

Core Equipment ist eine einfache Idee, wie bestimmte Ausrüstung quasi „zugesichert“ wird. Das kann man als eine Art Charakter-Erweiterung verstehen. Sie wird daher auch mit XP bezahlt. Was bei Dingen wie Granaten durchaus Sinn macht, wird bei dauerhaft verfügbaren Gegenständen wie Schwertern schwierig. Wenn ich 30xp für ein supertechnisches Megaschwert ausgegeben habe, und ein anderer Spielercharakter findet das in einer Kiste, dann gibt das natürlich (und zurecht) Ärger. Es wird auch schwer zu argumentieren, dass jemand XP ausgeben soll, um die Waffe zu behalten. Da bin ich mir nicht sicher, wie ich hiermit umgehen soll.

JCoM ist immer noch ein mordsmäßiges Ressourcengeschubse. Das kann man mögen, ist aber bei einem auf Einfachheit getrimmten Spiel ein spielflusshemmendes Element. Ich bin auch nach wie vor kein Freund von Threat, weil das den SL als Antagonisten der Spieler (nicht nur der Spielfiguren) aufbaut. Die höhere zu erwartende Zahl an Momentum macht den Fluss aber zuverlässiger und die Charaktere weniger davon abhängig, denke ich.

Renown ist eine ganz ordentliche Ressource um die Wichtigkeit des Standings vorlagengemäß darzustellen. Ich hätte sie aber nicht gebraucht. Halt wieder etwas mehr Meta.

Flaws sollen die Spieler dazu verleiten, dass die Spielfiguren ihrem Charakter entsprechend handeln. Ich mochte sowas nie. Die Flaws sind aber gut und einfach umgesetzt und daher nicht im Weg.

Die Charakterentwicklung kann ich derzeit einfach noch nicht einschätzen. Ich kann nicht sagen, wie ausgewogen die Optionen sind.

Das Spiel ist hochgradig anpassbar. Man hat ruckzuck ein paar neue Races und Archetypes gebastelt und kann dann auch andere Settings bespielen. Die Talente funktionieren über Trappings sehr universell.

Vielleicht wären „gewöhnlichere“ Attribute besser gewesen. Ich erwarte da Unsicherheiten.

Das Buch hat ein ungewöhnliches Format. Es ist ein Querformat. Da ich das Buch als PDF habe, ist das aber kein Problem. Das Layout ist ordentlich und meist gut lesbar.

Das Artwork ist gut gemacht. Dass die Figuren so peinlich aussehen ist halt der Vorlage geschuldet. Dafür kann das Spiel ja nichts. Das PDF macht ordentlich was her. Es wirkt so pulpig, wie es mir gewünscht habe.

FAZIT

John Carter of Mars ist gut gelungen. Die Regelmenge trifft meinen Sweet Spot. Das Spiel erscheint mir zugänglich genug, um auch als Einsteiger schnell hineinzufinden. Die vielen Freiheiten, die den Spielern gelassen werden, sind ein Pfund. Aber sie können je nach Gruppe und Spielziel auch problematisch werden.

Ich bin mir sicher, dass man hier noch an ein paar Schrauben drehen sollte. Wenn Modiphius es schafft, die Attribute etwas zu schärfen, eine spannendere und simple Lösung für Stress und Afflictions zu finden (der Stress-Wert hilft ja schon), dann hat das echte Universalsystem-Qualitäten.

Ich habe den Kauf nicht bereut und überlege schon, welche Settings ich damit einfach umsetzen könnte. Wenn Modiphius auf dieser Basis weitere Settings und Spiele anbieten würde, wäre ich begeistert. Vielleicht auch mal was ganz anderes mit Sci-Fi, mit Rüstungen, mit Gunporn? Ich würde mich freuen. John Carter of Mars gehört für mich zu den gelungenen Spielen. Gratulation an Modiphius.

Für den Moment ordne ich das als mein Go-To-Universalsystem für schnelle Lösungen ein. Vier von Fünf marsianischen Gliedmaßen! Irgendwas ist ja immer.